was bleibt über?
– ein reaktionärer trendüberblick eigener meinungsbewerbung:
über leben statt überleben. über das leben zu reflektieren ist der luxus der industrialen und postindustrialen gesellschaft. ohne den nervenkitzel des überleben-müssens im nacken, in einer wohlstandsgesellschaft, in der höchstens das prekariat, aber nicht der hunger oder wilde carnivoren lauern, ist zeit, sich über sein leben gedanken zu machen und es in die lebensart einfliessen zu lassen. uns ist im wahrsten sinne des wortes, einfach langweilig geworden. da wir uns nicht einer ständigen bedrohung essentieller lebensgrundlagen stellen müssen, haben wir eine kultur übers leben erstellt, einen lifestyle, der die kultur des überlebens abgelöst hat. aber machen wir uns weniger sorgen und haben weniger ängste? nein. eine kultur übers leben westlicher ausformung schürt von klein an ängste und unsicherheiten. warum? weil es viel unklarer ist, welche notwendigkeiten über das leben gefordert sind, als die einfachen notwendigkeiten im überlebenskampf. es ist dieser ständige wandel an anforderungen, an moden, an technischen und sozialen entwicklungen, die die kultur des lebens zu einer kultur des überlebens in einer medienorientierten massengesellschaft machen. viele suchen das über-leben, das optimale leben, die eingliederung in der hackordnung ganz oben, ein prinzchen&prinzesschenprinzip das kein genügen kennt. kein mittel ist zu minder, um zu medialer aufmerksamkeit (respektive deren geldleistungen) zu kommen, vom seelenstriptease bis zur herabwürdigung in jahrelang nicht bezahlten praktikantenstellen, jeder möchte seine 15min warholschen ruhm und mehr. immer mehr menschen ist dieser starletmoment beschieden, als wiederaufrufbarer nebenaspekt im digitalen archivierungswahn. man übergibt sich gerne in die abhängigkeit von der verwertungsmaschine aufmerksamkeit und nimmt ebenso deren fragwürdige lebensqualität in kauf. die kultur übers leben ist zu einer kultur der ablenkung vom leben verkommen. ein leben für die anderen, aber ohne philanthropischen hintergrund – eher im gegenteil. über dem leben der anderen zu stehen, hinabblicken zu können, scheint ein motivator ersten ranges in einer gesellschaft der aufmerksamkeit zu sein, ein wohl zutiefst menschlicher charakterzug, der schon in kleingruppen von frühester jugend an zum tragen kommen mag, aber als dauerzustand müde macht. an einem wettbewerbsprinzip ist an sich nichts auszusetzen, wenn es nicht als einziges motiv des lebens übrig bleibt. werte sind heute der fluktuation der aufmerksamkeit unterworfen und schwappen im news-takt an den pool der user. es gibt keine rezipienten mehr, nur solche, die beobachtungen gebrauchen und brauchen. eine verwendungsgesellschaft für den eigenen vorteil und vergnügen. die kollegenschaft im geschäftsalltag folgt dem gleichen gängelband der veränderung wie die formate der fernsehsender und der sozialmedialen co-evolution. konzentriert in den multiplikatoren der aufmerksamkeit. bloggen, flickern, twittern, interessensharing. elektronische bücher mit tausend gesichtern entfernter bekannter als freundesnachweisreport, mein raum als flirrendes schaufenster der kinderzimmerkünste. video und fernsehschnipsel, spammail, fotowälder, gehaltsscheck und ein bisschen frenchfry-lob. das bleibt über. kein wunder dass büroserien boomen. kein wunder dass digitale selbstprofilierung in vermeintlich mondänen sozialen netzwerken en vogue sind und profanitäten frohgemut mit publishing verwechselt werden. büroalltag und beziehungsnormalität, als selbstgestrickte soapopera, reality tv, freundespyramiden und what are you doing right now als freizeitbesinnung. ein monolog in eine technische apparatur, sei es auch die apparatur eines großkonzerns. ein monolog, der drei schritt weit in die leere hallt. monologe als kommastelle von ziegruppenauswertungen. user created content, der sich selbst wiederkäut. der schweigsame blick in eine wiedergabegerät, das vermeintlich über das leben erzählt. der leere blick ins eigene aufmerksamkeitsmanagement, ins start-up getue von distributionssoftware, mit der man sich im überblick behält, der man seine wohnzimmerlebensmeinung überantwortet und mit der man seine partyerfolge begräbt. ein über ich, selbstgeschaffen, selbst individualisiert , selbst fragmentarisiert. adrenalin für die einzelmasse. hipp hipp hurra, mit allen anderen unter allen anderen, unter allem anderen. über das leben anderer geriert sich eine kultur übers leben der anderen. weil überhaupt unter beobachtung spiegelung verstanden wird. wir sehen zu wie andere überleben und wollen es ihnen anders gleich tun, um die unsrige langeweile als wiederholung abgefeiert zu bekommen. wer sieht dabei zu? wir selbst zu allererst. ein kind in verkleidung, das sich vor einem kleinen bunten plastikspiegel mit würstchen überisst. wie soll man das überleben?